Zum inzwischen 30. Mal findet das Off Europa-Festival statt. Eine Reisebeschreibung.
Festivalchef und Kurator Knut Geißler nennt es schlicht »eine Reise«. Und das war und ist es tatsächlich und in mehrfacher Hinsicht, was da vor knapp drei Jahrzehnten als »MANöVER 1992« unter Geißlers Ägide seinen Anfang nahm und sich in den Folgejahren und ab 2005 unter dem heute bekannten Label »Off Europa« zu einem der deutschlandweit spannendsten unter den sogenannten Theater-Entdeckerfestivals entwickeln sollte.
Zum inzwischen 30. Mal wird dieses Festival, so die Corona-Situation es zulässt, in diesem Jahr stattfinden. Wie gehabt parallel in Dresden, Chemnitz – und natürlich in Leipzig; hier, wo diese Reise ihren Anfang nahm, deren aktueller Zwischenstopp jetzt mit »Off Europa: MANöVER Meisterstücke« überschrieben ist. Auf dem Programm steht, so Geißler: »Liegengebliebenes und Neuentdecktes – Künstler und Arbeiten, die ich früher schon gern einladen wollte, aber aus verschiedenen Gründen nicht einladen konnte.«
Anti-Begrenzungs-Reflexe
Von Anfang an ist Off Europa als ein Festival ausgerichtet, das sich als eins der Grenzgänge begreift. Was natürlich erst einmal ganz simpel den europäischen Raum, die einzelnen Länder meint, die dieses Festival in den Jahren seines Bestehens (seiner »Reise«) mit konzentrierten Streifzügen durchmessen hat. Doch so prägend dieser geographische Aspekt ist, so essentiell ist
die künstlerische Kartographie, die ihm zugrunde liegt und der diese Streifzüge bis heute nachfolgen. Sucht Off Europa doch weit abseits des ästhetisch Offiziösen und plakativ Repräsentativen, weit abseits des jeweils gerade proklamierten Zeitgeist-Geschmacks nach einer Kunst, die sich dezidiert immer auch als ein Anti-Begrenzungs-Reflex begreift. Und maßgeblich einem solchen entspringt.
Ein Blick ins Programmarchiv illustriert, was hier gemeint ist: Von einem »Festivalvorhaben« ist da zu lesen; einem, von dem »niemand wusste, wo es hinführen könnte und würde« und das ein »brisanteres Theater« zeigen wollte, »als es auf den großen Bühnen dieser Stadt zu sehen war. Dort gab es braves, verlogenes, altbackenes Zeug, das den Begriff Theater kaum verdiente.« So schrieb es Geißler damals, 1992, ins Programmheft zu diesem zunächst mit MANöVER 1992 überschriebenen »Vorhaben«, das in der Unterzeile mit einer Mischung aus Pragmatismus und Pathos »Freies Theater in Europa« beschwor. Und das in Leipzig!
Was emphatisch klingt und einst auch so gemeint gewesen sein dürfte, fasst Geißler in der Rückschau heute freilich etwas lakonischer: »Im Prinzip kam der Impuls damals ja aus dem Mangel heraus, dass man hier all das, was man sehen wollte, nicht sehen konnte. Es gab Anfang der 1990er Jahre einfach nichts Nennenswertes in der Stadt. Statt dessen war da jede Menge leerer Platz. Und der wollte gefüllt werden.«
Walzer und Paradoxien
Was es zu finden galt, um diese Leerstellen zu füllen, war, so Geißler, etwas, »das andere damals immer gern ›experimentelles Theater‹ genannt haben«. Und das meint ein freies Theater, das »frei« nicht nur in seinen Produktionsbedingungen außerhalb der obligatorischen, subventionierten Repertoire-Institutionen ist, sondern ganz unabhängig davon auch in seinem künstlerischen Selbstverständnis andere, freiere Wege beschreitet. »Freies Theater« in dem Sinne definierte die oft auch demonstrative Suche nach einer anders-authentischen Form des künstlerischen Ausdrucks. Einer anderen, zumal ästhetisch oft radikaleren Wirklichkeitsaneignung, als sie das klassische, oder besser, das bürgerliche Theater evoziert. Dass sich diese Suche dann wiederum vom »Theater in Deutschland außerhalb der Institutionen« (Festivalmotto 1994) bald auf ein Theater außerhalb Deutschlands kaprizierte, hatte seine guten Gründe. Qualitätsgründe nämlich.
Mit »Theater und Tanz aus Ljubljana« widmete sich 1995 erstmals ein Festivaldurchlauf in Gänze einem anderen Land: »In Slowenien«, erinnert sich Geißler, »sind meine Maßstäbe endgültig in Bewegung geraten. Das war schon eindringlich, dieses hohe Maß an Emanzipation. Inhaltlich wie formal und auch in rein handwerklicher Hinsicht.« Eine Initialzündung, die das Ihre beitrug, dass Geißler späterhin das Festival zunehmend, wenn auch nicht ausschließlich, nach Länderschwerpunkten ausrichtet. 2006 wurde das MANöVER in das heute bekannte Off-Europa-Festival umbenannt. Und auch wenn der damit einhergehende Slogan »MANöVER ist tot. Es lebe Off Europa« anderes nahelegt: Das »alte« Festival wurde weniger zu Grabe getragen als vielmehr neubelebt. Erfuhr weniger eine Neu-Erfindung als eine Neu- oder Feinjustierung. Die Streifzüge jenseits der deutschen Grenzen schärften das Profil und manifestierten die qualitative Substanz dieses Festivals, das sich, auch eingedenk vergleichsweise bescheidener finanzieller Zuwendungen, über die Jahre zu einem der künstlerisch spannendsten seiner Art entwickeln sollte. Und was barg das nicht alles an Entdeckungen, was da auf hiesige Bühnen gelangte. Beispielsweise mit einer »Mazedonischen Invasion« (1997) oder »Baltic Games« (2001), mit Blicken auf die »Wunde Bosnien« (2009) oder die »Türkei Urban« (2012), mit einer Nord-Süd-Vermessung von Finnland (»Sehnsucht Suomi«, 2016) bis Israel (»Mapping Israel«, 2019) oder mit Erkundungen bei unseren unmittelbaren Nachbarn in der Slowakei (»Perform Slovakia«, 2013) und Polen (»Identität Polska«, 2020). Und was davon, welche dieser vielen Inszenierungen, welche Momente, welche Szenen, die zu erleben waren, müsste man hier anführen, wollte man illustrieren, was Off Europa in seiner Eigenheit ausmacht, was diesem Festival seine ganz besondere Spezifik, seine Identität verleiht?
Natürlich, es müssten Grenzgänge wie diese sein: Dieser unprätentiöse und dabei unglaublich genaue Dialog zwischen einer jungen Tänzerin und einem älteren Philosophen etwa, der in der finnischen Produktion »Writing Dancing« zum gewitzten Exkurs über Körper und Geist, Sprache und Bewegung geriet und einem tatsächlich vorführte, wie das ist, wenn die Gedanken tanzen. Und der Körper denkt. der wie leicht eine Tragödie sich in ihr bloßes Abbild verwischt. In »It’s All Good« zeigte das der Israeli Rotem Tashach, indem er irgendwo im Grenzgebiet zwischen Tanzperformance, Comedy-Talk und Lichtbilder-Vortrag Théodore Géricaults Gemälde »Das Floß der Medusa« mit dem Foto eines kenternden Flüchtlingsboots im Mittelmeer konfrontierte – und darüber das Publikum mit jenen Verdrängungsmechanismen, die uns allen ja dabei helfen sollen, noch jede Tragödie mit den Mitteln des Ästhetischen zu domestizieren. Und das auch im Namen jenes vermeintlichen Seelenfriedens, der schließlich in »Late Night«, einer Stückentwicklung der legendären griechischen »blitz theatre group«, endgültig zu jener reinen Agonie gewandelt ist, in der das Darstellerensemble in einem den weiten Bühnenraum füllenden Trümmerfeld wieder und wieder den offensichtlich allerletzten Walzer tanzt. Eine Inszenierung als traumwandlerische Allegorie und traurig-schöne Theater-Elegie auf das Theater. Und auf den Traum von Europa gleich mit.
Geschichten erzählen, Zusammenhänge beleuchten
Dass sich dann wiederum beides – das Theater und Europa – gerade auch in diesem Festival und mit solchen Stücken hartnäckig behauptet, gehört freilich zu den Paradoxien, die im Grunde ja oft jene Kunst auszeichnet, die sich den Konventionen verweigert – und über ein entsprechendes Qualitätslevel verfügt. »Qualität ist natürlich immer Grundvoraussetzung. Sie aufzuspüren bleibt eine ständige Herausforderung«, sagt Geißler. Und wer das jetzt für eine Phrase, da Selbstverständlichkeit hält, sollte sich vergegenwärtigen, für wie viele, gerade auch etablierte Festivals, das eben so gar nicht selbstverständlich ist. Wie oft von diesen, und das gern auch im Namen eines (vermeintlichen) Publikumsgeschmacks, gezielt gesucht wird, was Off Europa ebenso gezielt zu vermeiden trachtet. Geißler: »Ich mag es schlicht nicht, dem Zeitgeist hinterherzuhecheln, grad anliegende Themen zu bedienen. Das wird zu schnell illustrativ, auch wenn die einzelnen Arbeiten selbst das nicht immer sein mögen. Die Wahrnehmung macht sie dazu.« Aber wie findet man diese ganz bestimmte Qualität? »Was mich angeht: Unvoreingenommen, mit offenen Augen und Ohren reisen, Geduld haben und warten, was einem begegnet, was zu entdecken ist. Mich interessiert zuerst der Blick auf die Menschen, die Kunst, das Theater vor Ort. Wenn Politik, gesellschaftliche Umstände hinzukommen, ist es um so besser, erzählt es noch mehr.« Und weiter: »Letztlich geht es mir ja vor allem darum, das zu finden, was mehr als eine bloße Bestandsaufnahme ist, sondern vielmehr Geschichten erzählt, Zusammenhänge beleuchtet.«
Wollte man auf den Punkt bringen, was die Intention Off Europa vom Gros anderer internationaler Theaterfestivals, inklusive der Leipziger euro-scene, wirklich unterscheidet, ist es vielleicht genau das: diese konzentrierte Suchbewegung ohne Gefälligkeitsbedürfnis. Die Mühe echten Entdeckens und das große, spürbare Vergnügen an dieser Mühe. Es ging Off Europa noch nie darum, hier vor Ort noch einmal das zu zeigen, was ohnehin schon hofiert wird (medial, vom Publikum, auf anderen Festivals), sondern immer die Arbeiten zu finden, die sich in ihrer künstlerischen Autonomie behaupten. Allein schon deshalb ist dieses Festival wichtig, füllt es immer noch einiges an »leerem Platz«. »Ich glaube durchaus«, sagt Geißler, »dass Off Europa mitgeholfen hat, ein Bewusstsein zu schaffen für eine Qualität, die weite Teile des Publikums einem etwas experimentelleren Theater außerhalb großer Institutionen und Festivals kaum zugetraut hätten. Fest steht: Ich habe diese Arbeit immer geliebt. Off Europa ist eine Reise, die mich dauerhaft bereichert hat. Und ich hoffe sehr, dass auch das aktuelle Festivalprogramm diesen Reichtum bezeugen kann.«
Veröffentlicht in „Leipziger Blätter“, Ausgabe 78