Stellvertretend für die vielen Besprechungen von „Mapping Israel“ hier der Abschlussbericht in der „Leipziger Volkszeitung“ von Steffen Georgi.
Es ist gleich der erste, groß und dick gedruckte Satz, der im Programmheft zum Off-Europa-Festival zu lesen ist, das am Sonntag zu Ende gegangen ist: „Gute Kunst ist immer auch politisch.“ Und so sehr man diesem markant postulierten Primat des Politischen gern widersprechen möchte, so sehr muss man zugeben, dass das schier eine Unmöglichkeit ist, wenn die Kunst wie zum diesjährigen Festivaldurchlauf mit „Mapping Israel“ aus einem Land kommt, dessen Wahrnehmung von diesem Politik-Primat geradezu okkupiert ist. Die Vermessung eines (europäischen) Landes mit den Mitteln der darstellenden Kunst; das Erstellen einer künstlerischen Kartographie abseits des ästhetisch Offiziösen und plakativ Repräsentativen: Das ist seit je das entscheidende Wesens- und Qualitätsmerkmal von Off Europa. Ein Entdecker-Festival in bester und mehrfacher Hinsicht. Und man muss genau das immer wieder erwähnen, weil eben auch genau das für einschlägige Festivals mitnichten selbstverständlich ist. Die Mühe echten Entdeckens – und die große Lust an dieser Mühe. Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird keine Wahrheit erobern – es ist nicht ganz uninteressant, wie gut sich israelische Gegenwarts-Bühnenkunst ausgerechnet durch das Perspektivspektrum des deutschen Idealismus betrachten lässt. Und sei es in jenen Umkehrungen, die davon sprechen, wie jedwede Wirklichkeit nur noch von der potenziellen Künstlichkeit jedweder Wahrheit spricht. Von deren Kunst-Fertigkeit im Sinne eines „Bereitseins, Kunst zu werden“.
„It’s All Good“ war gleich die zweite Bühnenshow des Festivals. Eine Inszenierung von und mit Rotem Tashach, in der der Künstler in einem von ihm kreierten Hybriden zwischen Tanz, Comedy-Talk und Lichtbilder-Vortrag an einer Stelle Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ mit dem Foto eines kenternden Flüchtlingsbootes im Mittelmeer konfrontiert. Hier ein Schiffsuntergang als Melodram im malerisch pathetischen Gestus der Romantik, dort die journalistische Momentaufnahme eines brutal alltäglichen Gegenwartsdramas. Dazwischen: der kräftige Wahrnehmungsreflex der Ästhetisierung. Denn man mag staunen oder auch erschrecken, wie schnell man, zumal im Kontext von Tashachs perfide scharfsinnigem Tanz-Sprech-Spiel, das Foto mit den Verzweifelten auf dem kieloben treibenden Flüchtlingsschiff nach bildkompositorischen Gesichtspunkten zu betrachten beginnt. Dass auch Géricaults Kunstwerk eine reale Tragödie aus der Zeit der napoleonischen Kriege schildert, ändert daran nichts. Im Gegenteil. Und denkt man diese Aspekte bei einer dritten Projektion mit, nämlich Magrittes berühmtem Bild einer Pfeife mit der Unterschrift „Das ist keine Pfeife“, fliegt einem der Titel dieser Performance als bitterer Hohn um die Ohren. Man sieht die Tragödie – und darunter steht, das ist keine Tragödie. Alles ist gut. Vor allem sieht es gut aus. Um nicht „schön“ zu sagen. Wie in „It’s Always Here“. Zwei Tänzer (Avshalom Latucha, Adi Boutrous) in einem dialogischen Miteinander-Gegeneinander, das als Raumvermessung beginnt: als ein stoisch synchrones, die Bühnenfläche umkreisendes Stehen, Fallen, Abrollen, Stehen… Stringent dann der Übergang zum an- und aufeinander Balancieren, zum gegenseitigen Heben und Tragen. Zum ineinander Wachsen und Auseinanderreißen. Das alles geschieht in einer Selbstverständlichkeit, die als Natürlichkeit erscheint. Aber – natürlich – akkurate Inszenierung ist (Choreografie: Adi Boutrous), in deren Vertrautheit sich zugleich wie unvermeidliche Einsprengsel die Gesten der Gewalt, wie nebenher gezeigte Nahkampf-Figuren, einfügen. Selbst dann, so scheint es, wenn das Gezeigte explizit nichts Politisches enthält, ist es in ihm latent implizit. Ist eingeprägt bis in die Körpersprache. Gilt auch für das vermeintliche Unschulds- oder Opferspiel, das die Tänzerinnen Carmel Ben Asher und Roni Chadash in „Victims & Images“ vorführen. Als filigranes Gegen- oder Ergänzungsstück zu „It’s Allways Here“ wirkt „Victims & Images“ wie eine Verschleierungstaktik weiblicher Selbstbehauptung, bei der man wunderbar sehen kann, dass Zartheit nichts mit Schwäche und das Filigrane nicht zwangsläufig mit Gebrechlichkeit zu tun hat. Es ist immer hier, immer präsent; die Opfer und die Abbilder. Die Geschichte in der Gegenwart. In ihrer Tanzperformance „Local/not easy“ erklärt Iris Erez einmal, warum „Israel zum Fruchtbarkeitsimperium“, zur Hochburg der auch künstlichen Befruchtung wurde. Erstens natürlich wegen des biblischen Gebotes „Seid fruchtbar und mehret euch!“. Zweitens ob des demografischen Problems, das mit „dem immensen Unterschied in der Geburtenrate zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung zusammenhängt“. Und drittens wirke da noch, so spekuliert Erez in aller Lakonie, „wahrscheinlich das kollektive jüdische Bewusstsein der fehlenden sechs Millionen“. Um wieder beim deutschen Idealismus zu sein. Was jetzt nicht (nur) sarkastisch gemeint ist. Denn dass die Kunst die geschichtliche Wahrheit verbirgt wie die Urnen die Gebeine, wusste schon Schiller. Wie sich nun auch diese Gebeine durch Kunst beleben können, zeigte sich zu diesem Off Europa immer wieder. Mit Arbeiten, die sich weit über die lapidare Wirklichkeit des bloßen Polit-Primats hinauswagten, selbst dann, wenn sie explizit politisch artikulierten. Ein künstlerisch ausgesprochen geglückter Jahrgang. Einer mit erfreulich starkem Zuschauerinteresse ebenso.